E I N E G E S C H I C H T E

~ Heute möchte ich eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte die wahr ist. Eine Geschichte von einem kleinen chilenischen Jungen.

 

Er ist 9 Jahre alt, lebt in einem Stadtviertel namens La Florida in Santiago de Chile und geht im Colegio Belén O’Higgins in die vierte Klasse. Oft ist er nicht im Klassenzimmer präsent. Er kommt zwar regelmäßig zur Schule, doch meistens verbringt er seine Zeit außerhalb des Klassenzimmers. Wenn er dann doch mal im Klassenzimmer ist, macht er gerne alles andere, aber schreiben und zuhören tut er nicht unbedingt. Von unseren Schulpsychologinnen wird es sehr unterstützt. Wenn seine Psychologin mit ihm arbeitet, lässt er sich durchaus auf den Unterricht ein, schreibt und hört zu. Meiner Meinung nach und auch die Psychologin ist der Meinung, dass er ein schlauer Junge ist. Doch leider wurde ihm schon in der Wiege etwas in den Weg gestellt.

 

Seine Mutter war ein junges Mädchen, als er auf die Welt kam. Sie fing an Drogen zu nehmen. Während der Schwangerschaft. Sie brachte ihren Sohn auf die Welt, doch konnte sich nicht um ihn kümmern. Bis jetzt kann sie ihren Drogenkonsum nicht stoppen, klaut in Kaufhäusern und sitzt regelmäßig im Gefängnis.

 

Der kleine Junge aus La Florida ist nicht ihr einziger Sohn. Außer ihm brachte sie noch drei weitere Kinder zur Welt. Jedes Mal unter den gleichen Umständen. Ihre Mutter, die Großmutter des kleinen Jungen, geht jeden Tag Arbeiten. Sie gibt dem Jungen und seinen Geschwistern ein zu Hause und versorgt sie mit Essen. Doch Zeit hat sie leider nicht für sie. Denn sie arbeitet von morgens bis abends. Somit sind die Kinder ständig alleine, können machen was sie wollen, und das in einem Viertel in dem es so schon viele Probleme gibt. In der Schule sagen sie, dass der Junge eigentlich auf der Straße lebt und so natürlich auch dort lernt. Er lernt Dinge, die man eigentlich nicht lernen sollte, vor allem nicht als Kind…

 

Vergangene Woche wollte sich die Freiwillige, die für ein Jahr im Colegio arbeitet, in der Mittagspause etwas zu Essen kaufen, doch ihren Geldbeutel konnte sie nirgends auffinden. Als sie sich wirklich sicher war, dass sie ihn nicht hatte, ging sie zu ihrer Kollegin und bat sie um Rat. Ziemlich schnell wurde klar, dass den Geldbeutel irgendjemand im Klassenzimmer aus ihrer Tasche, die immer hinten im Klassenzimmer liegt, genommen haben muss. Die Klasse wurde direkt nach der Pause befragt. Eine solche Situation gab es leider nicht zum ersten Mal. Freiwillig hat sich natürlich niemand gemeldet, doch durchsuchten sie das ganze Klassenzimmer und zwei Schüler halfen der Freiwilligen und der Psychologin, das Schulgelände zu durchsuchen.

 

Der Junge war die meiste Zeit nicht anwesend. Doch plötzlich kam er aus der Jungentoilette mit ihrem Geldbeutel in der Hand heraus. Das Geld fehlte. Sie war froh ihren chilenischen Ausweis wieder zu haben, doch die ganze Sache machte sie sehr traurig.

 

Am nächsten Tag drückte ihr die Psychologin ihr Geld in die Hand und teilte mit, wer es ihr aus der Tasche entnommen hat. Diese Nachricht hat die Freiwillige noch trauriger und noch nachdenklicher gemacht.

 

Der Junge kam die nächsten drei Tage nicht zur Schule. Am vierten Tag tauchte er zwar in der Schule auf, betrat aber weder das Klassenzimmer, noch redete er mit der Freiwilligen und auch sonst mit keinem. ~

 

 

Mit dieser Geschichte möchte ich kein Mitleid erwecken, ich möchte den Jungen und seine Familie auch nicht verurteilen. Ich möchte nur mitteilen, dass ich mit diesem Ereignis nach nun fast einem Jahr sehr zum Nachdenken gekommen bin. Schon von Anfang an wusste ich, wie schlecht es vielen Schülern in der Schule geht, wie sie aufwachsen und was sie für Probleme haben. In solch einem Viertel lebe ich nun mal.

 

Doch durch diesen Vorfall, der mich persönlich betraf, wurden mir die Augen noch einmal mehr geöffnet. Ich habe mit meiner Mentorin geredet, sie gefragt, ob man Kindern, die schon so früh kriminelle Züge entwickeln, nicht irgendwie helfen kann. Meiner Meinung nach kann man Probleme immer auf irgendeine Art und Weise lösen. Doch nicht nur das Problem des Jungen ist zu lösen. Um dieses lösen zu können muss man gleichzeitig noch tausend andere Probleme beseitigen. Das Problem der Mutter, die daraus entstehenden Schwierigkeiten mit der Großmutter, das Viertel, und, und, und. Man müsste also sehr viel Geld hinlegen um langfristig wirklich etwas zu bewirken. Aber genau dieses Geld ist natürlich nicht vorhanden.

 

Ich glaube genau so etwas nennt man Teufelskreis in der Soziologie. Chile scheint zwar ein mittlerweile sehr entwickeltes Land in Lateinamerika zu sein, doch in Wirklichkeit gibt es immer noch wahnsinnig viel zu verändern, vor allem was die Verhältnisse der Menschen angeht.

 

Mit dieser Geschichte möchte ich uns Menschen, die wir in Europa ein wirklich gutes Leben führen, dazu anregen, einmal über all das ein wenig nachzudenken. Mal zu überlegen, wie gut es uns eigentlich geht, was wir für Möglichkeiten haben oder wie viel Sicherheit wir vom Staat bekommen, egal ob Krankenversicherung oder die wenige Kriminalität auf der Straße. Selbst wenn man nicht arbeitet bekommt man Geld vom Staat zum überleben, es gibt in jeder Stadt anlaufstellen für Menschen die auf der Straße leben, für Drogenabhängige oder für Frauen die sehr früh und unter schwierigen Verhältnissen ein Kind bekommen. Natürlich gibt es immer etwas zu verbessern, doch wenn man die Situation aus der Brille eines hierlebenden Menschen betrachtet, ist es einfach perfekt.

 

Versuchen wir also, diese gute Situation in Europa zu erhalten, sie zu verbessern und durch Entwicklungsprogramme oder anderes auch anderen Ländern zu helfen, aus ihren Teufelskreisen auszubrechen.

 

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